Anregungen aus indigenen Kulturen
Von Alicia Rivero
Bavarian women meet the Andes world (Bayerische Frauen treffen die Welt der Anden) - Besser könnte man die wertschätzende, interkulturelle Begegnung mit dem Konzept des Sumak Kawsay (= Gutes Leben) nicht ausdrücken, denn es handelt sich zugleich um ein zukunftsweisendes und ein zutiefst in dem Weltbild der in den Anden lebenden indigenen Völker verwurzeltes Konzept. Allerdings ist es in den heute noch existierenden indigenen Kulturen nur begrenzt vorhanden, zumal es seit dem Einbruch europäischer kolonialer Mächte in Südamerika wenig praktiziert, geschweige denn weiterentwickelt werden konnte.
Das Konzept des "guten Lebens" beruht auf einer kulturellen Leitidee, die keinen Begriff für Reichtum als Akkumulation oder Armut als Mangel an materiellen Gütern kennt. Sie stellt die Gemeinschaft und nicht das Individuum in den Mittelpunkt und zielt auf ein Leben in Harmonie mit der Natur. Dem westlichen Wohlstandsverständnis ist das fremd. Dass darüber zunehmend außerhalb der Andenländer debattiert wird, hat sicherlich mit der aktuellen Diskussion über die Grenzen des konsumorientierten Wachstums, aber auch mit der weltweiten Sichtbarmachung indigener Bewegungen zu tun. Es handelt sich um ein Konzept in Konstruktion, das auch westliche universelle Prinzipien einbezieht und Gemeinsamkeiten mit der feministischen Ökonomie und dem Ökofeminismus aufweist.
Mutter Erde in der Verfassung
Mit der Verankerung kollektiver Landrechte indigener Völker aus der Perspektive einer multiethnischen, vielsprachigen und interkulturellen Gesellschaft in seine Verfassung nahm Venezuela 1999 eine Vorreiterrolle in der Region ein. Eine Erwähnung des 'Guten Lebens' findet man in ihr jedoch nicht.
In den neuen Verfassungen von Ecuador (2008) und Bolivien (2009) hingegen wird die Herstellung der Bedingungen für das Gute Leben ausdrücklich erwähnt, hat also Verfassungsrang. Besonders in der bolivianischen Verfassung werden die Natur und die Pachamama (Mutter Erde) als eigenständige Rechtssubjekte anerkannt, wobei die Pachamama ein Grundprinzip ist, das die Unteilbarkeit der Erde und die Zusammengehörigkeit aller auf ihr lebenden Wesen darstellt.
Der Literatur zufolge sieht Sumak Kawsay in den Geschlechterverhältnissen Polaritäten, die sich gegenseitig ergänzen, ansonsten wird die Geschlechterfrage recht wenig thematisiert. Das hindert ecuadorianische Sozialwissenschaftlerinnen nicht daran, feministische Gedanken in die Debatte einzubringen. Dafür nutzen sie Neuerungen der ecuadorianischen Verfassung, bspw. die Gleichstellung der Reproduktions- mit der Produktionsarbeit. Der ecuadorianische Staat erklärt sich sogar bereit, die gemeinsame Verantwortung von Männern und Frauen bei der Hausarbeit und den familiären Verpflichtungen zu fördern.
Vision und Weg
Aus der Sicht von Irene León (s. Kasten) ist die aktuelle Verfassung Ecuadors ein Rahmen für einen grundlegenden und langfristigen Wandel, dessen wichtigsten Säulen die Transformation der Gesellschaft und daher auch die der patriarchalen und kapitalistischen Verhältnisse sind. 'Gutes Leben' sei dabei eine Vision und ein Weg, um neue Formen des Wechselverhältnisses zu entwickeln.
Der Verfassungsauftrag beider Andenländer bietet eine historische Gelegenheit über ihre Landesgrenzen hinaus zu strahlen. Nichtdestotrotz ist es ein schwieriger Auftrag, denn er beruht auf Werten, die nicht mit den Interessen der herrschenden lokalen Eliten zusammenpassen. Die einfache Übertragung des Sumak Kawsay auf andere Gesellschaften wäre utopisch und keinesfalls wünschenswert, seine eigenen Werte widersprechen auch einem hegemonialen Geltungsanspruch. Es kommt darauf an, das Konzept weiter zu entwickeln ohne es zu kooptieren. Wir sollten uns auf die wachsende, globalisierte Debatte einlassen und wach bleiben.
Dr. ing. Alicia ivero ist entwicklungspolitische Referentin, Gender-Expertin und Autorin.