Evangelischer Presseverband für Bayern e.V.

Der Mensch ist der größte Kontinent

Heft 3/2008 Abenteuer

Von Leonie Krüger

 

Abenteuer: der Begriff weckt vielfältige Assoziationen. Ich denke als erstes an meine schöne Kindheit zurück, als ich gebannt die Romane von Astrid Lindgren las, an Pippi Langstrumpf und Karlsson auf dem Dach. Dann drängt sich das Bild des heiligen Georg auf, der den Drachen besiegt. Ich denke an Robinson Crusoe und seine Erlebnisse auf der einsamen Insel, an die "Sternstunden der Menschheit" von Stefan Zweig, in der er den "Kampf um den Südpol" als Wettlauf von Scott und Amundsen beschreibt…

All dies sind Abenteuer: frei erfundene wie im Falle Pippi Langstrumpfs, Legenden wie beim heiligen Georg, mit historischem Wahrheitsgehalt, aber auch wirklich erlebte Abenteuer der Entdecker Scott und Amundsen, von denen Stefan Zweig erzählt. Die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit sind fließend: "Ich glaubte, es wäre ein Abenteuer, aber in Wirklichkeit war es das Leben.", urteilte der britische Segelkapitän und Schriftsteller Joseph Conrad. Hier wird deutlich: Was ein Abenteuer ist, wird ganz und gar bestimmt vom subjektiven Erleben. Was die eine langweilt, ist für die andere ein aufregendes, einmaliges Erlebnis. So ist der Sprung vom Zehn-Meter-Brett für eine Turmspringerin eine Selbstverständlichkeit. Für eine weniger sportliche Frau wird dieser Sprung in die Tiefe zur Mutprobe und zum Abenteuer.

Ein Abenteuer erleben möchten auch die Besucherinnen und Besucher des ‚Second Life'. Diese virtuelle Welt erlaubt es, sich eine neue Identität zu verschaffen und in dieser Online-Welt ein zweites Leben zu führen. Was am Anfang für viele Nutzerinnen und Nutzer als echtes Abenteuer galt, entpuppt sich jedoch mehr und mehr als eher reizlosere Ersatzwelt. Und: Wenn das Abenteuer zum Dauerzustand wird, verliert es seinen Reiz; es lebt auch vom begrenzten Zeitfaktor.

Nicht alle Abenteuer gehen gut aus

Viele sehnen sich nach Abenteuern, nach Ausbruch aus dem Alltag, nach Veränderung. Sie warten auf den besonderen Kick, auf das Risiko, und hoffen auf den guten Ausgang. Wer nicht wagt, heißt es, gewinnt nicht. Wir denken an Kolumbus und seine Entdeckung Amerikas, an riskante und zum Teil auch größenwahnsinnige kriegerische Unternehmungen - von den Siegeszügen Alexanders des Großen über die Schlachten Napoleons bis hin zu den beiden Weltkriegen ziehen sich die kriegerischen und militärischen "Abenteuer" durch die Geschichte. Doch nicht alle Abenteuer gehen gut aus. Manche Menschen machen ihren Beruf zu einem Abenteuer mit ständigem Risiko, das tödlich enden kann: Hochseil-Artistinnen, Stunt-Frauen, Kriegsreporterinnen. Die niederländische Abenteurerin und Afrika-Forscherin Alexandrine Tinné (1835-1869) durchquerte als erste Europäerin die Sahara. Auf ihrer Expedition durch die libysche Wüste wurde die mutige Frau von Tuaregs ermordet.

Maria Sybille Merian (1647-1717) hatte bei ihrer Reise nach Surinam, die gewiss ein Abenteuer war, mehr Glück: Nur in Begleitung ihrer Tochter überlebte sie ihren über zweijährigen Aufenthalt im feucht-heißen Klima der äquatornahen Urwälder. Die Grafiken der Naturforscherin, die übrigens die Metamorphose der Schmetterlinge entdeckte, und ihre Stiche von Blumen und Insekten sind weltberühmt.

Ein Abenteuer ist ein Wagnis

So risikoreich wie bei Maria Merian oder Alexandrine Tinné geht es heute beim Reisen nicht mehr zu. Die klassische "Abenteuerreise" ist meist ein gut durchorganisiertes Event und hat mit einem Abenteuer im eigentlichen Sinne nur mehr wenig zu tun. Doch noch immer kann Reisen ein Wagnis sein. Zum einen in der Begegnung mit der Natur - etwa beim Bergsteigen, in der Wildnis, im ewigen Eis. Auch Forschungsexpeditionen in noch unbekannte Regionen der Welt bleiben echte Abenteuer - von den Tiefsee-Erkundungen des Meeresforschers Jean-Michel Cousteau bis hin zu den Mondlandungen der Amerikaner.

Neben diesen Grenzerlebnissen in der Begegnung mit der Natur sind persönliche Erfahrungen ein Abenteuer: Junge Frauen sammeln beispielsweise während ihrer Freiwilligendienste bei der "Aktion Sühnezeichen" oder als "Missionarin auf Zeit" im Ausland wichtige Erfahrungen für ihren weiteren Lebensweg.

Diese vielfältigen Aspekte des Abenteuers sind schon im Begriff selbst angelegt, der - wie das Beispiel "Abenteuerreise" zeigt - heute leider fast inflationär gebraucht wird. "Abenteuer" (lat.: adventura = Ereignis; mittelhochdeutsch: aventiure, franz.: aventure) bezeichnet eine riskante Unternehmung, ein Wagnis, oder auch ein Erlebnis, das sich stark vom Alltag unterscheidet; oder auch einen Seitensprung, eine Liebesbeziehung außerhalb der Partnerschaft. Casanova und Don Juan sind Abenteurer par excellence; aber auch die "femme fatale" oder der Typus der stark erotisierenden Frau, ob verkörpert als Josephine Baker oder Marilyn Monroe, Claudia Schiffer oder Lady Diana - ihr Lebensweg mutet abenteuerlich an und sie stehen für unerfüllte Sehnsüchte, Träume, Phantasien. Die Welt des Abenteuers in der Phantasie ist groß. Manche dieser "Abenteuerreisen" in Halluzinationen und Wahrnehmungsveränderungen lassen sich durch Drogen hervorrufen. Manche sind auch durch Krankheiten verursacht, etwa bei manisch-depressiven Schüben und Stimmungsschwankungen. In jedem Falle: Der Begriff Abenteuer oszilliert zwischen Lust und Frust, Freude und Entsetzen, Nervenkitzel und Spiel, Wonne und Tod, Aufbruch und Einbruch. Es ist immer ein "Spiel" mit ungewissem Ausgang, von dem wir hoffen, dass es gut endet.

Früher selbstverständlich - heute ein Abenteuer

Ein leidvolles Abenteuer in unserer kapitalistischen Gesellschaft ist es, über wenig oder gar kein Geld zu verfügen. Wer von Hartz IV leben muss, hat im täglichen Existenzkampf ein traurig abenteuerliches Leben. Noch schwieriger gestaltet sich die Situation für die Menschen, die hier in Deutschland als Illegale leben. Und auch wenn dieser Kampf gegen die Bürokratie meist nicht gleich Existenz bedrohend ist: Der bundesdeutsche Behördendschungel weist so manche Fallstricke auf, die scheinbar einfache Vorgänge wie etwa die Beantragung von Wohngeld zu einem regelrechten Abenteuer werden lassen - mit oft ungewissem Ausgang...

"Abenteuer" sind dem gesellschaftlichen Wandel unterworfen. Was früher als "Abenteuer" galt - etwa Fernreisen und Expeditionen - sind im Zeitalter des Massentourismus Alltagsphänomene. Umgekehrt ist es heute ein Abenteuer für eine Frau, Familie zu haben. Abenteuer Familie, das heißt: Wie werden sich die Kinder entwickeln? Früher war es für Frauen selbstverständlich, Familie und Kinder zu haben. Über Kindererziehung wurde längst nicht so viel nachgedacht wie heute. Kinder gehörten einfach zum Leben dazu. Heute ist es, vor allem bei Frauen aus höheren Bildungsschichten, eher etwas Besonderes, ein Kind zu haben, und kann als "Abenteuer" empfunden werden.

Entscheidend ist: Wie definiere ich als Frau, was für mich "Abenteuer" bedeutet? Welche Abenteuer möchte ich erleben? Was möchte ich aus meinem Leben machen? Das Leben selbst ist as größte aller Abenteuer. Das Abenteuer ist eine Möglichkeit, sich selbst zu entdecken.

Das Soziale ist die größte Entdeckung

Der österreichischen Aphoristikerin und Musikerin Elfriede Hablé (gest. 1934) wird der Satz zugeschrieben: "Der sicherste Weg zur Ausgeglichenheit führt über das Abenteuer". Zu sich selbst finden, die eigenen Möglichkeiten und Grenzen erkennen und erweitern, das ist das Abenteuer. Aber auch: sich im anderen wieder finden, den anderen erkennen und verstehen. Das Deutsche Rote Kreuz wirbt mit dem Slogan "Abenteuer Menschlichkeit". Das Soziale ist die größte Entdeckung und der Andere der größte Kontinent, den wir haben und den wir entdecken können. Im Leben und Erleben von Menschlichkeit verwirklichen wir uns.

Eine große Chance zur Selbstfindung und Selbstentdeckung bietet der Glaube. Glaube ist Grenzerfahrung: Wer sich auf das Abenteuer des Glaubens einlässt, kann zu sich selbst und zu anderen finden. In einem Alltag, der von Reizüberflutung, Lärm und Informationsüberfluss bestimmt ist, bedeutet z.B. eine Auszeit im Kloster, auch in Verbindung mit einem Schweigegebot und einer einfachen, gesunden Ernährungs- und Lebensweise, den eigenen Körper und den eigenen Geist zu spüren, die eigenen Kräfte wiederzugewinnen und das Leben neu zu entdecken. In diesem Sinne: das Leben ist ein Abenteuer.

Dr. Leonie Krüger ist Referentin für Öffentlichkeitsarbeit beim Diakonischen Werk Bayern und Mitglied im efi-Beirat.