Eine Vergewaltigung, ein Aufschrei und ein "Ach so..."
Von Laura Hennemann
Am 12. September 2012 bekam die Webseite der Hertener Allgemeine Zugriffe aus ganz Deutschland. Weil die Menschen nicht fassen konnten, was sie dort lasen. Drei Jahre zuvor war eine 15-Jährige von einem 31-Jährigen vergewaltigt worden. Dass es zum von ihr ungewollten Geschlechtsverkehr gekommen war, daran bestand kein Zweifel. Trotzdem sprach nun das Landgericht Essen den Mann frei. Eine Zeitung titelte: "Freispruch im Vergewaltigungs-Prozess: Mädchen hat sich nicht genug gewehrt" und löste damit einen Aufschrei aus. Bei Twitter greift die Internet-Gemeinde in so einem Fall gerne zu expliziten Worten: "Das ist kein Urteil, das ist beschämend. Ich kotze.", schrieb beispielsweise der User mit dem doch sanften Pseudonym "Babyschäfchen".
Andere Medien wie Fokus online und Welt.de griffen die Geschichte auf, gingen aber kaum über den Bericht der Hertener Allgemeinen hinaus. Dann folgte ein Artikel auf Spiegel Online, der unter dem Titel "Ein erschreckend korrektes Urteil" die Sachlage etwas erklärte:
"Nach der höchstrichterlichen Rechtssprechung war das Urteil nachvollziehbar begründet", sagt Tatjana Hörnle, Inhaberin eines Lehrstuhls für Strafrecht an der Berliner Humboldt-Universität und verweist auf Paragraf 177 des Strafgesetzbuches.
Dort steht: "Wer eine andere Person
1. mit Gewalt,
2. durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben oder
3. unter Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist, nötigt, sexuelle Handlungen des Täters oder eines Dritten an sich zu dulden oder an dem Täter oder einem Dritten vorzunehmen, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft."
Die ersten beiden Punkte konnten in diesem Fall ausgeschlossen werden. Und "schutzlos" war das Mädchen nach Ansicht der Richterin ebenfalls nicht. "Es hätte weglaufen oder Hilfe rufen können, aber es hat alles über sich ergehen lassen. Das reicht nicht, um jemanden zu bestrafen", zitiert die Hertener Allgemeine die Richterin.Daraufhin wurde es wieder still bei Twitter. Und auch in den Medien folgte weiter nichts. Spiegel Online hatte ja alles erklärt. "Ach so...", sagten sich die Leute.
Verpasste Chance
Allerdings geht der Spiegel-Online-Artikel noch weiter. Später im Text heißt es:
Strafrechtsexpertin Hörnle kann die Empörung nachvollziehen. Die Entscheidung des Landgerichts sei zwar unter den gegebenen Umständen richtig, "man muss sich allerdings fragen, ob das Gesetz, das dem Urteil zugrunde liegt, es auch ist". Der Fall habe gezeigt, dass der Gesetzestext an dieser Stelle unbefriedigend ist. [sic]
Dieser letzte Satz hätte eine Diskussion auslösen können. Denn Tatjana Hörnle ist sicherlich nicht die einzige Rechtsexpertin mit dieser Ansicht.
Im September 2012 bin auch ich auf das Essener Gerichtsurteil aufmerksam geworden und wollte darüber bloggen. Die Pressestelle des Landgerichts war zunächst überlastet, es haben wohl noch mehr Journalisten dort nachgefragt. Erst nach Tagen rief mich der Pressesprecher zurück. Und erklärte mir, dass das Gericht nicht leichten Herzens dieses Urteil gesprochen habe, es die Gesetze jedoch nicht anders habe auslegen können. Daher sei nun eine gesellschaftliche Diskussion nötig, um, falls gewünscht, eine entsprechende Nachbesserung der Rechtslage anzustoßen.
Zu dieser gesellschaftlichen Diskussion aber kam es leider nicht. Obwohl ich mir vorstellen kann, dass ich nicht die einzige war, der der Pressesprecher so etwas sagte. Die Medien hätten das Gerichtsurteil also durchaus als Aufhänger nehmen können. Es hätte nach dem "Ach so..." noch weiter gehen können. Aber sie haben das verpasst. Der oben zitierte Absatz von Spiegel Online ist wohl das Tiefgehendste, was zu dem Thema erschien.
30.000 Unterschriften gegen Paragraph 177
Ach ja, die Medien. Da war zum Beispiel im März die Tatort-Folge, in der eine Staatsanwältin vergewaltigt wird und trotzdem keine Anklage erhebt. Eine Staatsanwältin! "Wenn nicht mal die vor Gericht eine Chance sieht, kann ich es ja gleich vergessen"; dürfen sich die Zuschauerinnen dabei denken. Etliche Gleichstellungsbeauftragte verschiedener Universitäten schrieben gemeinsam einen Protestbrief an die ARD. Erst drei Monate später und auf nochmaliges Nachfragen bekamen sie eine Antwort. Die erschütternd lapidar war.
Während die Medien also weitgehend untätig blieben, haben sich einige Organisationen des Paragraphen 177 angenommen. Terre des Femmes hat Anfang Mai knapp 30.000 Unterschriften an das Justizministerium übergeben, die eine Reform des Paragraphen fordern (siehe efi 3-2014 S. 28).
Auch der Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) setzt sich für diese Reform ein, ebenso die Initiative für Gerechtigkeit bei Sexueller Gewalt. Das Kommunikationszentrum für Frauen zur Arbeits- und Lebenssituation hat einen offenen Brief an den Bundesgerichtshof geschrieben und der Deutsche Juristinnenbund eine Stellungnahme zur nötigen Anpassung des Gesetzestextes verfasst.
All diese Verbände haben auch einen gewichtigen Anlass: Der aktuelle Paragraph 177 steht im Widerspruch zur Konvention des Europarates über die "Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt". Diese Konvention hat die Bundesregierung im Jahr 2011 unterzeichnet und eine "zügige Ratifikation" angekündigt, wie der bff schreibt. Was seither passiert ist? Jedenfalls keine Ratifikation.
Über den unseligen Paragraphen 177, der im September 2012 der 15-Jährigen zumindest rechtliche Rückendeckung hätte geben können, schweigen sich die Medien und der Justizminister weiterhin aus. Und sonntags zeigt die ARD immer noch alte Tatort-Folgen.
Laura Hennemann ist freie Wissenschaftsjournalistin in Stralsund. Im Watch-Salon des Journalistinnenbundes bloggt sie über Themen im Bereich Medien, Frauen und Gesellschaft.
Auch dieser Artikel erschien ursprünglich im Watch-Salon www.watch-salon.blogspot.de.