Frauen im Märchen - Abbild, Vorbild, Seelenbild?
Von Dorothea Cunradi
Es ist der 17. Oktober 1810: Jacob Grimm schickt an Clemens Brentano 48 Märchentexte. Davon sind wohl 18 aus literarischen Quellen, die anderen sind mündlich überliefert. Der Grundstein für eine Sammlung ist gelegt.
Allerdings wurden die Texte von Auflage zu Auflage überarbeitet, zum Erziehungsbuch gemacht und mit christlicher Moral ausgestattet. Um den Anforderungen eines vorwiegend bürgerlichen Publikums nach rein deutschen Märchen nachzukommen, wurde auch eine nationale Eingrenzung der Auswahl vorgenommen, die allerdings nicht schlüssig ist. Französische Kunstmärchen und Märchenvarianten fließen in die Sammlung genauso ein wie im übrigen Europa oder international verbreitete Märchen.
Märchen haben jedoch als Archetypus eine lange Geschichte hinter sich. Hierbei gibt es Grundassoziationen, die sich in vielen Kulturen stark ähneln und das kollektive Element des archetypischen Symbols ausmachen, das von vielen oder allen Menschen unbewusst mit einer Idee oder einem Prinzip verknüpft wird. Ein archetypisches Symbol zeichnet sich dadurch aus, dass es ein mehrdeutiges Gebilde ist, das Assoziationen auslöst und gedeutet werden will.
Bilder seelischer Entwicklung
Märchen stellen das, was in unserer Seele oft so schwer durchschaubar durcheinandergeht, in klar voneinander unterschiedenen Rollen "auf die Bühne".
Da das Märchen kulturgeschichtliche und psychologische Sachverhalte reflektiert, symbolisiert und interpretiert, sind die Rollen, die von Frauen besetzt sind, äußerst facettenreich ausgestaltet.
In vielen Märchen sind Frauen diejenigen, die die Handlung vorantreiben. Männer erscheinen dabei allenfalls als Abwesende oder als lohnenswerte Objekte, deren frau habhaft werden will. Es gibt Mütter, Stiefmütter, Töchter, Stieftöchter, Prinzessinnen, Mägde, Schwestern, weise Frauen, Hexen, Konkurrentinnen und Retterinnen.
Mädchen gelten als vernunftbegabt und tatkräftig. Das trifft vor allem auf leibliche Schwestern zu. Beispiele gibt es viele, angefangen mit Gretel, die ihr eigenes Schicksal und das ihres Bruders wendet, über die Schwester der sieben Raben, die ihre Brüder erlöst, Schneeweißchen und Rosenrot, die Schutz und Fürsorge gewähren, bis hin zu den Schwestern bei Aschenputtel, die sich im Kampf um den Königssohn vollkommen identisch verhalten. Auch die ungeliebte, benachteiligte, verfolgte Stieftochter ist ein Beispiel für Tatkraft und Kreativität. Schneewittchen mutet zwar unendlich naiv an, weiß sich aber nicht zuletzt aufgrund ihrer großen Schönheit die Zuneigung aller Männer zu sichern. Der Jäger setzt sie aus, anstatt sie zu töten, die sieben Zwerge geben ihr Nahrung und Unterkunft und der Prinz bringt sie am Ende ins Leben zurück. Die ungeliebte Goldmarie erhält die Zuneigung und am Ende den Reichtum der weisen Frau Holle durch Fleiß. Aschenputtel besticht durch schöne Kleider und kleine Füße.
Im Gegensatz zur begabten, aber unterdrückten Tochter haben die bevorzugten Stieftöchter nichts zu bieten als schlechte Manieren und Faulheit. Sie kommandieren andere gerne herum, haben aber selbst keine nennenswerten Tugenden oder Fähigkeiten aufzuweisen.
Konkurrenzkämpfe werden mit Erfindungsreichtum und reichlich Durchsetzungsvermögen ausgetragen. Schneewittchens Stiefmutter ist in der Wahl ihrer Mittel nicht zimperlich, Aschenputtels Mutter agiert aus dem Grab heraus, die Mutter des verliebten Prinzen legt ihre zukünftige Schwiegertochter erst mal auf eine Erbse, um ihre Prinzessinnennatur zu testen, die dreizehnte Fee rächt sich über Dornröschen perfide für ihren Ausschluss beim Fest.
Listig führt die Großmutter des Teufels den Teufel persönlich an der Nase herum. Auch die drei Spinnerinnen ermöglichen der jungen und schönen Königin durch List ein sorgenfreies Leben. Die Frau im Essigkrug weiß nicht, wann es genug ist mit den Wünschen, Rotkäppchen und die Großmutter lassen sich doch tatsächlich vom Wolf fressen, Mädchen sind zu neugierig und werden stumm (Marienkind), die kluge Else zerbricht, die Frau von König Drosselbart wird gedemütigt.
Neue Frauen braucht das Märchen?
Frauen sind gut beraten, sich nicht nur an den ausgewiesen weiblichen Rollen im Märchen zu orientieren oder sich darauf zu begrenzen. Die Geschichten der Männer fordern ihren Platz. Was in den meisten Märchen geschlechtertypisch aufgeteilt ist, fordert uns zum Spiel auf dieser Bühne heraus. Haben wir etwa keine Lust, "gendertrouble" zu verursachen? Der König, der jüngste Sohn, der Dümmling, der Prinz, der Krieger, der Alte - das sind Rollen, die genauso von Frauen eingenommen werden.
Zuschreibungen bewusst und konsequent zu durchbrechen - würde das den Spaß und die Lust am Spiel mit den Märchen nicht erhöhen? Ich meine, wer will denn schon andauernd mit schönen Kleidern in einem Schloss herumsitzen und glücklich sein?