Geträumtes Leben - gelebte Träume
Heft 3/2009 Traumgezeiten
Geträumtes Leben - gelebte Träume
Wir westlichen Menschen hören meist beim Erwachen auf, uns mit unseren Träumen zu befassen, allenfalls ziehen wir unterschiedliche Deutungen heran, die uns nicht viel weiter bringen. Und doch wünschen wir uns oft, mit unseren Träumen aktiver und sinnvoller umzugehen. Naturvölker wie die Senoi in Malaysia können uns das lehren.
Von Gerda Cramer-Bochow
Es gibt kaum ein Naturvolk, das sich nicht mit seinen Träumen beschäftigt. Stämme, die aus einem schamanistischen Weltbild heraus leben, wie z.B. die Ojibwa in Nordamerika oder die Unambal in Australien, sehen den Traum als führende Kraft in ihrem Dasein an. Bei anderen Stämmen werden die Träume auf besonders wichtige Ereignisse und Übergänge im Leben bezogen - wie Geburt, Reife, Tod, Krankheit und Heilung. Bei den meisten Naturvölkern gilt es, nach dem Erwachen den Traum zu erzählen, ihn gefühlsmäßig nachzuvollziehen und dann nach seinen wegweisenden Vorgaben zu handeln. Sie leben quasi aus dem Traum heraus, er gibt ihnen die Impulse für weiterführende Aktivitäten. Die Träumenden drücken das für sie Bedeutsamste aus ihren Träumen in ihrer Gruppe aus - sei es durch Gespräch, Tanz, Gesang, Darstellung oder kreatives Gestalten.
Der Begriff des Traums meint hier allerdings nicht nur den Nachttraum, sondern umfasst viele Formen eines veränderten Bewusstseinszustands, also auch Trance, Tag- und Wachträume, wie sie auch die moderne Psychotherapie als gelenkte Imaginationsreisen einsetzt.
Energiequelle Traum
"Der Umgang mit Träumen ist eine beachtliche Energiequelle" sagen die Senoi, die im Dschungel von Malaysia leben und die ich vor Jahren mehrmals mit Unterstützung der damaligen Regierung besuchen durfte. Bei diesen liebenswerten Menschen stehen Träume und der Umgang mit ihnen im Mittelpunkt des täglichen Lebens - was mich sehr begeisterte. Das Erzählen der Träume verbindet bei den Senoi die einzelnen Familienmitglieder und diese wiederum mit ihrer Gruppe. In der traditionellen Gesellschaft der Orang Asli (Ureinwohner) von Malaysia war keiner mehr wert als der andere, alle waren Teile eines Ganzen. Der Beitrag, den jemand dazu leistete, entschied über seine Bedeutung und Stellung.
Ein Blick auf das Weltbild der Senoi ist wichtig für das Verständnis: Für die Senoi gibt es außer der Wirklichkeit, die wir mit unseren Sinnen erfassen können, eine Welt der unsichtbaren, aber hochwirksamen Kräfte. Wir können sie uns als Elektrizität, Magnetfelder oder Atome vorstellen. Das Universum wird von dieser Energie in Gang gehalten, die Belebtem und Unbelebtem innewohnt, die unerschöpflich ist und alles mit allem verbindet. In dieser Urenergie manifestieren sich polare Prinzipien von Schöpfung und Zerstörung, Verwandlung und Neuschöpfung. Beide Pole bilden zusammen eine Einheit. Der Traum ist Teil dieser umfassenden Energie und selbst Energie. Die Menschen sind eingebettet in dieses Kräftefeld. Die „kleine Welt“ der menschlichen Psyche ist eine Miniaturausgabe der "großen Welt" des Universums. Genauso wie sich in der Natur eine Auseinandersetzung zwischen positiven und negativen Kräften vollzieht, findet sich auch in der Psyche und im Traum ein Spiel von Aufbauendem und Zerstörendem. Dabei wird unter dem Aufbauenden alles verstanden, was mit Entwicklung, Wachstum, Fruchtbarkeit und schöpferischer Aktivität zu tun hat, unter dem "Negativen" alles, was jenes hemmt oder vernichtet - wie Naturgewalten, Krankheit, Tod, zerstörerische Tendenzen im Menschen selbst oder "böse Geister".
Grundsätze der Traumarbeit
Vor diesem Hintergrund arbeiten die Senoi mit ihren Träumen: Jeden Tag berichten nach dem Morgenmahl die Mitglieder einer Gruppe von ihren Träumen. Das gilt für die Erwachsenen und ebenso für die Kinder, die ganz selbstverständlich von klein auf in diesen Umgang mit den Träumen hineinwachsen. In der morgendlichen Sitzung werden die eindrucksvollsten Träume diskutiert, Ratschläge erteilt und Konsequenzen für das praktische Leben gezogen. Entscheidend ist es nach Ansicht der Senoi nicht, was eine Person träumt, sondern wie sie damit umgeht, was sie daraus macht. Wobei dies nicht nur für sie und ihre Entwicklung von Bedeutung ist, sondern sich auch auf ihre Beziehung zu den Mitmenschen auswirkt.
Die Traumarbeit wird von drei Grundsätzen geleitet: Der erste und wichtigste betrifft die menschlichen Ängste. Träumt jemand von einer Angst- oder Gefahrensituation oder von unüberwindbaren Hindernissen, so soll er nicht flüchten oder aufgeben. Denn, so meinen die Senoi, weicht er aus, so wird ihm die gleiche Situation immer wieder in irgendeiner Form begegnen. Eine Gefahr muss überstanden, ein Hindernis überwunden, ein Traumfeind besiegt, eine Angst bewältigt werden.
Der zweite Traumgrundsatz besagt, dass immer auf ein positives Ende oder die Erreichung eines Zieles hingearbeitet werden soll. Negative Trauminhalte sollen in positive umgewandelt werden. Denn die Bewältigung von Negativem setzt aktive Kräfte frei und weckt Gefühle von Freude und Selbstvertrauen. Träume vom Fallen oder Abstürzen zum Beispiel werden umgeträumt in solche vom Fliegen oder Schweben. Tauchen im Traum erfreuliche Inhalte auf, so versuchen die Senoi, diese noch zu steigern, sie intensiver zu erleben. Kindern werden dazu gelenkte Tagträume vorgeschlagen. Der dritte Traumgrundsatz fordert die Träumenden auf, etwas Kreatives von ihrer Traumreise mitzubringen und es mit den übrigen Gruppenmitgliedern zu teilen. Damit werden "Gaben" im doppelten Sinn des Wortes angesprochen: als Geschenk und als Begabung, die in jedem als kreative Stärke vorhanden ist. Die Senoi fertigen beeindruckende Holzschnitzereien an, kreieren Tänze und wertvolle Alltagshilfen.
Die gebannte Gefahr
"Ich habe geträumt, dass ich am Bach in den Fischfallen nachsehen wollte, ob Fische drin sind. Es sind so viele, dass ich einen Korb mitnehmen muss. Auf dem Weg zum Bach kommt plötzlich ein Riesenskorpion auf mich zu. Ich fürchte, dass er mich sticht und vor Schreck lasse ich den Korb fallen und renne zurück zum Dorf."
Es ist ein fünfjähriger Junge, der diesen Traum im Familienkreis erzählt. Der Vater bedankt sich bei dem Kind dafür, dass es den Traum mitgeteilt hat und antwortet: "Dein Traum geht uns alle an. Du hast Angst. Du läufst vor dem Skorpion weg. Du lässt deinen Korb fallen und hast die Fische nicht mitgenommen. Wir wollen nun sehen, welche Möglichkeiten du hast, mit der Angst fertig zu werden. Denn irgendwo wirst du dem Skorpion wieder begegnen, vielleicht in einer anderen Gestalt, und musst dich dann mit ihm auseinander setzen."
Das Kind macht - seinem Alter entsprechend - Vorschläge, was es tun könnte: Den Skorpion ansehen, nicht vor ihm weglaufen, den Korb über das Tier stülpen, über das Tier springen, jemanden um Hilfe bitten... Dann träumt der Junge mit geschlossenen Augen in entspanntem Zustand einen Tagtraum: "Ich gehe auf dem Weg zum Bach und will Fische holen. Plötzlich sehe ich einen giftigen Riesenskorpion. Ich will weglaufen, fasse mir aber ein Herz und bleibe stehen. Ich habe große Angst, sehr mir jedoch das Tier genau an. Ich rufe meinen älteren Bruder zu Hilfe. Der zeigt mir, wie man Skorpione anfasst, so dass sie nicht stechen können. Wir nehmen das Tier mit und geben es dem Ältesten, der aus dem Gift eine Medizin macht. Dann gehen wir und holen die Fische aus dem Bach."
In diesem Beispiel praktischer Traumarbeit kommen alle drei Traumgrundsätze vor: es hat eine Auseinandersetzung mit der Angst stattgefunden, der Tagtraum hat eine positive Richtung genommen, es wurde ein Geschenk mitgebracht, aus Gift ein Heilmittel gewonnen. Ein Kind ist auf seinem Weg ins Leben ein wenig mutiger geworden - und hat uns damit ein Beispiel gegeben, von dem auch wir lernen können.
Gerda Cramer-Bochow ist Diplompsychologin und Integrationstherapeutin.