Evangelischer Presseverband für Bayern e.V.

Mädchenhandel ist nichts Neues

 

Heft 1/2013 wertvoll

Von Irene Stratenwerth

 

Mädchenhandel ist kein neues Phänomen. In unterschiedlichen Spielarten wurden Mädchen und junge Frauen auch vor 100 oder 200 Jahren in fremde Länder verkauft.

Dorothea Louise Ludwig war 18, als ihre Eltern im hessischen Langenhain einen Vertrag abschlossen: Sie überließen ihre Tochter einem so genannten Landgänger. Er konnte das Mädchen für drei Jahre nach Kalifornien mitnehmen und zahlte dafür 1000 Gulden. Im Jahre 1863 war das sehr viel Geld für eine arme Bauernfamilie in Hessen - eine Dienstmagd verdiente etwa 50 Gulden im Jahr.

Was aus Dorothea Louise wurde, ist unbekannt. Hunderte junger Mädchen aus Hessen brachen damals, oft schon kurz nach der Konfirmation, in die Neue Welt auf. Als Tanzmädchen wurden sie engagiert, um den Männern in den Goldminen Zerstreuung und weibliche Nähe zu bieten. 1864 klagt der Preußische Konsul in San Francisco in einem Brief, "dass ihre Lebensweise in den meisten Fällen in eine geistige und körperliche Prostitution ausarten muss." Doch zunächst wird das Thema nur von einigen Pastoren aus den Herkunftsgemeinden der Mädchen aufgegriffen - und von dem Berliner Schriftsteller Georg Hesekiel, der dem "Central-Ausschuss für Innere Mission" der Evangelischen Kirche 1864 darüber berichtet.

Jüdische Frauen aus Osteuropa

Mädchenhandel (1860 bis 1930) ist das Thema einer Ausstellung, die seit Ende August in Berlin und Bremerhaven gezeigt wird. Es geht um ein Phänomen, das mit den großen Auswanderungswellen - aus Deutschland und ganz Europa nach Nord- und Südamerika - einherging. In den Einwanderungsländern herrschte Männerüberschuss, während die jungen Frauen in ihren Herkunftsländern oft kaum Zukunftsperspektiven hatten. Dem Versprechen, am anderen Ende der Welt warte eine schöne Stelle als Dienstmädchen oder Kellnerin oder ein wohlhabender Bräutigam auf sie, folgten viele nur allzu gerne. "Freiwillig" war ihr Weg in die Prostitution aber auch dann nicht, wenn sie ahnten, worauf sie sich einließen.

Dies betrifft ganz besonders jüdische junge Frauen aus Osteuropa. Der "Gelbe Schein", der Prostituiertenausweis im Russischen Reich vor 1917, bildete für Jüdinnen oft die einzige legale Möglichkeit, den für Juden vorgeschriebenen "Ansiedlungsrayon" zu verlassen und in Großstädte wie Moskau und St. Peterburg zu ziehen. Der Gelbe Schein wurde aber auch zum Titel der Ausstellung, weil er ein Symbol für die Zwangslage all jener Mädchen und Frauen ist, die ihren Körper verkaufen mussten, um zu überleben - oder um jedenfalls ein bisschen an dem gesellschaftlichem Umbruch teilzuhaben, der sich in rasanter Geschwindigkeit um sie herum vollzog.

Kaum eine andere Wahl

Um 1900 bildeten sich erste - jüdische, christliche und nationale - Komitees zur Bekämpfung des Mädchenhandels. An denjenigen, deren Schutz sie eigentlich dienen sollte, gingen die Aktivitäten dieser Komitees oft vorbei. Zu gegensätzlich waren die gesellschaftlichen Gruppen, die sich hier begegneten - die aus dem arrivierten Bürgertum stammenden Wohltäterinnen und ihre verarmte Zielgruppe, die rigiden Moralvorstellungen bürgerlicher Frauenrechtlerinnen und die krude Lebenswirklichkeit der Dienst- und Ladenmädchen.

Denn den Mädchen und jungen Frauen wurde früher oder später klar, dass es kein Zurück für sie gab. Dass sie als "Gefallene" galten, als "verdorben", dass sie bestenfalls bemitleidet, oft aber auch verachtet wurden. Sie wussten genau, aus welchen Verhältnissen sie weggegangen waren und dass es dort keine Zukunft für sie gab.

Dieses unbekannte Kapitel der Auswanderungsgeschichte, aber auch der jüdischen Sozialgeschichte, wird in den beiden Ausstellungen an ausgewählten Einzelschicksalen erzählt. Große Portraits der jungen Frauen werden ergänzt durch vertiefende Text- und Tondokumente. Die Besucher sind dazu einladen, sich selbst ein Bild zu machen - und Parallelen zur Gegenwart zu ziehen.

Irene Stratenwerth ist Kuratorin der Ausstellung „Der Gelbe Schein“ und arbeitet als Journalistin und Autorin in Hamburg.

Die Ausstellungen "Der Gelbe Schein, Mädchenhandel (1860 bis 1930)" sind bis zum 30. Dezember in den historischen Räumen der Stiftung Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum und bis zum 28. Februar 2013 im Deutschen Auswandererhaus Bremerhaven zu sehen.
Zum Weiterlesen: Irene Stratenwerth, Der Gelbe Schein. Mädchenhandel (1860 bis 1930), Hrsg. von Simone Blaschka-Eick und Hermann Simon, edition DAH, 14,80 Euro.