Evangelischer Presseverband für Bayern e.V.

Nur keine falsche Scham - aber bitte auch keine Unverschämtheiten

Heft 4/2014 Un-verschämt

Von Daniela Haas

 

Man stelle sich folgende Situation vor: Ein feierlicher Anlass, ein reich gedecktes Buffet, allerhand schön arrangierte Delikatessen. Die Gastgeberin erhebt die Stimme: "Das Buffet ist eröffnet! Greifen Sie zu! Nur keine falsche Scham!" Während die meisten Gäste sich einige Häppchen nehmen, hier und da probieren, lädt sich ein Mann den Teller randvoll, schiebt dann die schön dekorierten Häppchen achtlos enger zusammen, um sich für weitere Platz zu schaffen und nochmals nachlegen zu können. Eine Frau beobachtet ihn aus dem Augenwinkel und flüstert mit abschätzigem Blick ihrer Gesprächspartnerin zu: "Schau mal, der! Unverschämt!"

Konstatierte Unverschämtheit trotz Aufforderung zum Ablegen falscher Scham? Die Situation zeugt in doppelter Hinsicht von einer Erwartungshaltung. Schon die Aufforderung der Gastgeberin "falsche Scham" abzulegen scheint die Gäste nicht grundsätzlich von der "Pflicht zur Scham" zu entbinden. Sie legt vielmehr die Existenz einer "richtigen" im Sinne von sozial erwarteter Scham nahe. Diese Annahme wird durch den Kommentar der Frau am Ende der geschilderten Szene gestützt: "Schau mal, der! Unverschämt!". Der Mann zeigt in ihren Augen nicht die erwartbare Scham und wird daher als "un-verschämt" bezeichnet.

Die zwei Seiten der Scham

Ist es also gut, sich zu schämen? In gewissen Situationen wohl schon. Denn niemand möchte "unverschämt behandelt" oder "schamlos betrogen" werden. Und es ist auch keiner und keinem Recht zu hören, sie oder er hätte "keine Scham im Leibe". Das Schamgefühl kann zwischenmenschlich positive Funktionen erfüllen. Es weist leise auf Grenzen hin und fungiert so als eine Wächterin von Privatheit und Intimsphäre.

Doch damit ist das Phänomen Scham nur einseitig beschrieben. Fast jede und jeder kann sich an Schamerlebnisse erinnern, die alles andere als leise waren. Scham kann auch ein überwältigender, vereinnahmender, negativer Affekt sein. Die betroffene Person fühlt sich unzulänglich, hat Angst um den guten Ruf und möchte den Blicken der Mitmenschen nicht länger ausgeliefert sein. In solchen Situationen nimmt Scham überfallartig die Lust am Dasein und führt an die Grenzen des emotional Erträglichen. Davon zeugen Redewendungen wie: "Ich habe mich in Grund und Boden geschämt!", "Ich wäre vor Scham fast gestorben!"

Folgen der Scham

Obwohl Scham immer ein emotional unangenehmer Affekt ist, sind grundsätzlich positive und negative Folgen möglich. Wie bereits beschrieben kann Scham als emotionaler Indikator dienen, der uns die eigene Schamgrenze und die anderer Personen anzeigt. Wir tun dann bestimmt Dinge nicht, bzw. nicht mehr, um das unangenehme Gefühl der Scham zu vermeiden. Insofern kann Scham die Persönlichkeitsentwicklung und das soziale Verhalten fördern. Sind Menschen jedoch sehr häufigen oder besonders schweren Beschämungen und Entwürdigungen ausgeliefert, hat Scham negative Folgen. Dies gilt vor allem dann, wenn sie die beschämende Situation nicht ändern können.

Der bekannte rote Kopf und der gesenkte Blick von sich akut schämenden Menschen sind dabei nur die äußerlich sichtbaren Zeichen. Im Inneren kommt es zu einem extrem ambivalenten Zustand. Einerseits möchten von Scham betroffene Menschen der Situation entfliehen. Ihre Herzfrequenz beschleunigt sich, sie schwitzen, das Blutvolumen nimmt zu. Andererseits sind sie in einer Art emotionaler Schockstarre. Sie können keinen klaren Gedanken fassen und sind nur eingeschränkt ausdrucksfähig. Häufige oder kontinuierlich andauernde Schamerlebnisse können zum emotionalen Rückzug oder zu aggressiven Verhaltensweisen führen. Besonders problematisch dabei ist, dass Schamerlebnisse so schmerzhaft sind, dass sie oft verdrängt werden. Irgendwo ganz tief drinnen ist dann etwas, das so peinlich ist, dass man selbst nicht hindenken und erst recht niemanden hinschauen lassen möchte.

Gründe für Scham

Warum schämen sich Menschen? Grundsätzlich ist zu betonen, dass die Gründe für Scham stark kultur- und zeitgeistabhängig sind. In der tiefenpsychologischen und sozialwissenschaftlichen Literatur finden sich differenzierte Kategorisierungsansätze, die die Bandbreite schamauslösender Situationen verdeutlichen. Daraus werden im Folgenden wichtige Schamauslöser vorgestellt:

Menschen schämen sich, wenn etwas von ihnen gegen ihren Willen für andere sichtbar wird (Intimitätsscham). Dabei kann es sich zum Beispiel um intime Körperteile handeln, aber auch um Gefühle. Das Mädchen, dem auf dem Pausenhof mit dem bekannten Spruch "Deckel hoch, der Kaffee kocht" der Rock hochgezogen wird, ist ebenso betroffen wie die Managerin, deren Unsicherheit bei der Präsentation sichtbar wird. Eine zweite Variante der Scham ist die Kompetenzscham. Sie tritt bei offensichtlichen Misserfolgserlebnissen auf. Die Schülerin, die im Sportunterricht als einzige die Kletterstange nicht hochkommt, schämt sich vielleicht ebenso wie die ältere Arbeitnehmerin, die nicht mehr die gleiche Leistung bringt wie früher. Im Falle von Abhängigkeitsscham schämen sich Betroffene, weil sie ohne gewisse Dinge oder Personen nicht sein können. Alkohol- und drogenkranke Menschen können ebenso betroffen sein, wie solche, die in unguten zwischenmenschlichen Abhängigkeiten leben. Die bisher beschriebenen Schamarten beziehen sich alle auf die eigene Person. Es gibt aber auch Situationen, in denen wir uns für andere Menschen schämen, mit denen wir in Verbindung stehen. Dann spricht man von empathischer Scham. Eine Frau die sich für ihren betrunkenen Ehemann schämt, ist ebenso denkbar wie die Gruppe deutscher Touristinnen, die beschämt durch eine Holocaust-Gedenkstätte geht.

Scham und Religion

Ein Kollege erzählte mir folgendes Beispiel: Er wurde auf einer Party nach seinem Beruf gefragt. "Wissenschaftler an der Uni." "Oh toll!" Die Blicke wendeten sich ihm zu. "Welches Fachgebiet?" "Religionspädagogik." "Oh…!" Eine lange Gesprächspause. Dann der rettende Einfall des Gegenübers: "Aber schon evangelisch?" Als der Kollege verneinte breitete sich peinliche Stille aus.

Das Beispiel zeigt exemplarisch, dass die sogenannte Gretchenfrage in unserer Gesellschaft häufig schambesetzt ist. Denken wir an die Wächterfunktion der Scham, scheint mir dies zumindest teilweise angemessen. Denn die Gott-Mensch-Beziehung kann durchaus als intim und damit im positiven Sinne als schambegrenzt eingestuft werden. Andererseits gehört zu einer gebildeten Religiosität bzw. Weltanschauung aber auch die Fähigkeit, über diese zumindest in Teilen kommunizieren zu können. Ein gesundes Schamgefühl kann also auch im Themenbereich Religion helfen, eine Sensibilität zu entwickeln, mit wem und worüber gesprochen werden kann.

Anhand des Bildes und der Urgeschichte von Adam und Eva lassen sich abschließend schlaglichtartig einige Dinge aus biblischer Sicht zum Thema Scham festhalten. Adam und Eva verlassen durch den Sündenfall die enge Gemeinschaft mit Gott, in der es offensichtlich keine störende Scham gegeben hat. Das Essen der verbotenen Frucht hat ihnen die Augen geöffnet. Die von der Schlange in Aussicht gestellte Änderung tritt ein, jedoch nicht in der erwarteten Weise. Die Menschen sind nun zu sich schämenden Lebewesen geworden. Das Bild, das der Maler Massacio zeichnet, zeigt einen Adam, der versucht sein Gesicht mit den Händen zu verstecken - eine Geste, die wir von sich schämenden Kindern kennen. Eva bedeckt mit der Hand ihre Genitalien, wendet ihr Gesicht aber ebenfalls ab. Die Scham der beiden Personen ist für den Betrachter zum Greifen nahe. Und dennoch enthält die Geschichte zum Bild ein Hoffnungszeichen. Adam und Eva wurden eben nicht nackt und damit ihrer Scham schutzlos ausgeliefert aus dem Paradies entlassen. Gott schenkt dem Menschen als Ausstattung für sein neues Dasein Kleider. Dabei erscheint es fast als ein Akt mütterlicher Zuwendungen, wenn die Urgeschichte davon spricht, dass er diese dem Menschen auch noch anzieht. Der Mensch ist also auch in seiner Scham ein von Gott erkanntes und begleitetes Wesen.

Daniela Haas promovierte am Lehrstuhl für evangelische Religionspädagogik an der Universität Erlangen-Nürnberg. Sie arbeitet als Lehrerin im Grundschulbereich.

Zum Weiterlesen:

Daniela Haas: Das Phänomen Scham. Impulse für einen lebensförderlichen Umgang mit Scham im Kontext von Schule und Unterricht, Kohlhammer 2013, Reihe Religionspädagogik innovativ, 219 Seiten, 29,90 Euro.