Reden baut Brücken
Von Johanna Beyer
Fasziniert von klugen Worten, prägnanten Formulierungen, spritzigen Resümees habe ich in der Schulzeit begonnen Aphorismen und kleine Gedichte zu sammeln, aufzuschreiben und zum Teil auswendig zu lernen. Aus dieser ersten Sammelphase stammt folgendes Goethezitat "Worte sind nicht nur gesprochene Atemzüge, darum sollte jeder, der etwas spricht auch etwas zu sagen haben".
Diese Worte habe ich in all den Jahren nicht vergessen, vielleicht auch deswegen, weil sie aufs Erste so plausibel sind, weil sie "Geschwätz", leere Worte, Phrasendreschen aufs Korn nehmen.
Auf den zweiten Blick regt sich aber Widerstand gegenüber diese Form männlicher Bewertung kommunikativen Verhaltens das wohl vor allem auf Frauen abzielt und ihr Reden einordnet als "Weibertratsch".
Die Idee kommt beim Reden
Denn in Wirklichkeit ist es doch so: wenn frau (oder auch Mann) über einem Artikel oder einem Vortrag brütet und nicht weiter kommt, wenn das Blatt leer bleibt, dann ist reden angesagt. Ein Treffen, ein Anruf - und die Gedanken beginnen zu atmen. Die Formulierungshemmung ist wie weggeblasen, die Worte purzeln, die Argumentationslinie entfaltet sich. Es ist genau so, wie es Heinrich von Kleist in einen Brief "Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden" beschrieben hat. Dort schlägt er vor, wenn das Nachdenken nicht hilft, über das Thema zu sprechen - nicht jemanden zu fragen, sondern selbst zu erzählen: Wie der Appetit beim Essen, so komme die Idee beim Reden. Für ihn war seine Schwester, ohne der Sache kundig zu sein, das heilsame Gegenüber, das ihn zur Erkenntnis brachte. Eine solchen "Nutzen" hatte für Moliere die Magd und wir wissen um viele weitere Frauen die als Musen Männern zu ihren großen Werken verholfen haben. In der öffentlichen Wahrnehmung verblieben sie in dem Status einer Muse, der Spiegelnden, des "zweiten Geschlechts" obgleich sie oft selbst eigene bedeutende Werke verfasst haben.
Es scheint so, als ob es vor allem die Frauen sind, die sich für ein solches entfaltendes Sprechen anbieten. Sie sind gute Zuhörerinnen - nicht nur für männliche Erkenntnissuchende sondern auch für andere Frauen. Mütter, Tanten, Schwestern und Freundinnen werden jeden Tag, ganz oft und immer wieder als die gebraucht, die der anderen ihr Ohr leihen, um deren Erkenntniswege zu beflügeln. Ohne diese Musenarbeit gäbe es manche Diplom- oder Magisterarbeit, manchen efi-Artikel und viele, viele kluge Frauentexte nicht.
Die Erfindung der Redekur
Geflügelte Worte erinnern uns an den Zusammenhang von Emotion und Sprechen im Sinne von Worte finden. "Das verschlägt mir die Sprache", oder "Da fehlen mir die Worte", "Das bringe ich nicht über meine Lippen". Scham oder Schrecken lassen eine verstummen, doch das Nicht-Gesagte findet oft in spezifischen Symptomen seinen Weg sich mitzuteilen.
Dass Reden hilft, ist nicht nur die Erkenntnis aus den Missbrauchsskandalen sondern hat als Alltagswissen eine lange Tradition. Sigmund Freud erfand am Anfang des vorigen Jahrhunderts in Zusammenarbeit mit Joseph Breuer eine ganz neue Kur - die Redekur. Und auch hier spielt eine Frau eine ganz bedeutende Rolle, wenn auch in der Wissenschaftsgeschichte die oben genannten Männer als die Akteure gelten.
Bertha Pappenheim, eine junge Frau mit einer Reihe von 'hysterischen' Symptomen wie Kopfschmerzen, Sehstörungen, Lähmungen und Angstzuständen, berichtete im Arztgespräch von ihren Symptomen und davon, in welchem Zusammenhang sie erstmals und wiederholt auftraten. Sie folgte ganz ihren Erinnerungen und die damaligen Affekte traten bei dem Reden darüber wieder auf. Sie durchlebte quasi die Situation erneut und dieses Wiedererleben lies die Symptome abklingen. Daraus zogen Freud und Breuer den Schluss, dass diese 'Redekur' eine kathartische Wirkung habe. Diese Krankengeschichte wurde unter dem Pseudonym 'Anna O' publiziert und transportierte die Erkenntnis, dass eine allein von den Worten und Assoziationen der Patientin oder des Patienten - und damit von deren Unbewussten - geleitete reinigende Aussprache heilende Wirkung entfaltet. Damit begann die Entwicklung der Psychoanalyse; die verschiedene Schulen ausbildete und die als Impulsgeberin für viele weitere Gesprächstherapien gelten kann. Sie alle beruhen auf der Überzeugung - reden hilft und gibt neuen Lebensatem.
Wohltuendes Reden
Reden kann auch Distanz schaffen, Worte können verletzen ebenso wie Nicht-Reden oder Schweigen. Wir kennen mittlerweile eine Reihe von friedensstiftenden Praktiken, die auf das Wort setzen. Dazu gehören die Politik der Diplomatie und des im Gespräch-Bleibens und die weltweiten Konferenzen, die Mediation in Familiensachen und im Arbeitsrecht ebenso wie im Kleinen der Ratsch am Gartenzaun oder unter Kolleginnen im Treppenhaus.
Leben bedeutet auch im Gespräch zu sein und zu bleiben - lebenslang. Zusammensitzen und sich austauschen, sich beraten, vom eigenen Leben erzählen, Selbstpräsentation und Kommunikation, Worte suchen und finden, um sich anderen mitzuteilen oder auch nur, um sich im Selbstgespräch mehr Klarheit zu verschaffen. Oder sein Herz im Gespräch mit Gott auszuschütten, im Gebet. Wie wohltuend all dieses Reden sein kann, lässt sich am ruhiger werdenden Atem ablesen, tiefe Atemzüge ...