Siehe, ich will ein Neues schaffen
Von Silvia Guhr
Dem flüchtigen Blick präsentiert sich unsere gegenwärtige Epoche der Neuzeit geradezu als Eldorado der permanenten Erneuerung. Doch wie offen sind wir wirklich für das bahnbrechend Neue?
Wer heute mithalten will, ist mit dem hektischen Konsumieren von Neuheiten beschäftigt, mit denen uns ein atemlos produzierender Markt ohne Unterlass bombardiert. Keine Branche scheint da ausgenommen. Permanent muss Neues her: der neueste Modeschrei, die neueste Methode, die neueste Idee, das neueste Automodell, der neueste Klatsch, die neueste Elektronik, das neueste Unterhaltungsformat. All das gibt vor, Antwort auf eine nie versiegende Neu-Gier zu geben, heizt aber gleichzeitig die Sucht nach immer mehr Neuem an. Es scheint sich alles um das Neue zu drehen, wie ein Tanz um ein goldenes Kalb, das da heißt Innovation. Doch wie neu ist dieses Neue wirklich?
Beim näheren Hinsehen ist ein Verdacht nicht von der Hand zu weisen: oft verbirgt sich hinter der innovativ-dynamischen Grimasse nur ein allzu vertrautes Gesicht. Oft wurde neu gepanschter alter Wein in bestenfalls neu getünchten Schläuchen nur umetikettiert. Auch das neueste Produkt belässt mich in der alten Rolle der Konsumentin, das neueste Wagenmodell befördert mich auf den altbekannten Wegen, die neueste Erkenntnis hat keine längere Halbwertszeit als ihre Vorgängerin. Die tolle neue Kreation entpuppt sich bloß als veränderte Kombination von altbekannten Bestandteilen ... Es scheint, als gebe es, biblisch gesprochen, wirklich nichts Neues unter der Sonne.
Und die Aufgesetztheit, mit der wir in dem vorgeblich aktuellen Stück unsere modern bemalten Masken tragen, durch deren Risse unverkennbar der alte Adam und die alte Eva durchscheinen, legt einen weiteren Verdacht nahe: so ganz ernst ist es mit der Jagd nach dem Neuen doch nicht gemeint! Das bahnbrechend Neue, das tatsächlich Umwälzende, wollen wir gar nicht wirklich. Das könnte ja möglicherweise vieles in Frage stellen. Schließlich haben wir es gerne bequem und abgesichert. Wer will das ernsthaft aufs Spiel setzen? Die Kehrseite der Neu-Gier-Medaille ist ein kraftvolles Beharrungsvermögen, das wir durch kleine ungefährliche Neuheiten nur unzulänglich kaschieren. Diese Trägheit hat Dorothée Sölle in einem Gedicht sehr treffend beschrieben:
...ich höre denen zu/ die mich austrocknen und klein machen/ ich richte mich ein/ auf die langsame gewöhnung ans totsein/ in der geheizten wohnung/ den großen stein vor der tür...
Neues macht Angst
Dieses spirituelle Ersticken in der eigenen Komfortzone könnte eigentlich Angst auslösen, doch die größere Angst scheinen wir davor zu haben, dass sich wirklich etwas verändern könnte. Wir haben Angst vor dem Neuen, denn es ist potentiell gefährlich, weiß die Psychologie. Daher begegnen wir Neuem umso vorsichtiger, je unberechenbarer es ist. So machen wir auch einen weiten Bogen genau um die Dinge, die uns aufrütteln und umkrempeln könnten. Wenn es sich nicht vermeiden lässt, mit solchen Ereignissen konfrontiert zu sein, versuchen wir meist so schnell wie möglich wieder zur gewohnten Tagesordnung zurückzukehren. Und wir begegnen Menschen, die von Erschütterungen berichten, nach denen nichts mehr so weitergehen konnte wie bisher, mit bestenfalls mitleidiger Distanz. Erzählt jemand etwa von einem starken spirituellen Erlebnis oder gar von einer Bekehrung, die sie oder ihn zu einem neuen Menschen gemacht hat, so kehren sich nicht selten sogar Christen und Christinnen peinlich berührt ab. Wäre es nicht besser, genau da dranzubleiben, nachzufragen, hinzuhören? Denn womöglich steckt die Quelle der wahrhaften Innovation dahinter?
Göttliche Innovationsfreude
Womöglich ist da etwas am Werk, wovon vom Alten Testament bis zur Offenbarung signifikant oft genug die Rede ist: Du machst neu die Gestalt der Erde... heißt es da, oder Ich will einen neuen Geist in sie geben... Da geht es nicht um oberflächliche neue Tünche, sondern um tief greifende Erneuerung, damit auch wir in einem neuen Leben wandeln. Dieses Ziel erscheint manchmal als Zukunftsvision, an anderer Stelle wird das Neue als eine bereits eingetretene Tatsache vorgestellt: Siehe, Neues ist geworden.
Spiritueller Mut
Die Bibel ist so voll von Hinweisen auf dieses Neue, Bahnbrechende, Unerhörte, dass man von einer wahrhaft göttlichen Innovationsfreude sprechen kann. Die Lebendige lautet bezeichnenderweise einer der Gottesnamen in der Bibel in gerechter Sprache. Diese Lebendige lässt sich als Quelle sehen, aus der jede echte Erneuerung gespeist wird. Aus der heraus neue Wege sich auftun, neue Kräfte wachsen, wirklich neue Lösungen für Probleme gefunden werden.
Ein letzter Verdacht: unterhalb der Schicht der oberflächlichen Neugier, unterhalb der Schicht der Bequemlichkeit, unterhalb der Schicht der Angst, rumort in den meisten noch ein Rest Sehnsucht nach tief greifender Erneuerung und Wandlung. Dieser Hunger lässt sich nicht ganz betäuben, überhören, überspüren. Davon weiß das bereits oben zitierte Gedicht von Dorothée Sölle. Denn in der Fortsetzung dieser Zeilen bittet das lyrische Ich ein Du ganz inständig:
ach frag du mich nach der auferstehung / ach hör nicht auf mich zu fragen. Die Autorinnen der heiligen Schriften, die Dichterinnen, Mystikerinnen und spirituellen Lehrerinnen haben immer wieder an diese Sehnsucht erinnert. Und den Mut beschworen, ihren Impulsen nicht auszuweichen. Immer wieder brauchen wir diesen Mut. Immer wieder neu stehen wir vor der Entscheidung, ob wir die Scheinbefriedigung wählen, die neurotischen Kicks des Marktes. Oder ob wir das wirklich Neue riskieren und uns dem Leben in die Arme werfen wollen - in Anlehnung an ein lesenswertes Buch feministischer Theologinnen. Ein bisschen von diesem spirituellen Mut wäre doch ein prima Weihnachtswunsch!