Was hat Kunst mit Leben zu tun?
Von Heidi Hofmann
"Mir fällt auf, dass Kunst in unserer Gesellschaft zu etwas geworden ist, das nur Gegenstände, nicht aber Individuen oder das Leben betrifft, dass Kunst etwas Gesondertes ist, das von Experten, nämlich Künstlern gemacht wird. Aber könnte nicht das Leben eines jeden ein Kunstwerk werden? Warum sollten die Lampe oder das Haus ein Kunstgegenstand sein, nicht aber unser Leben?" (M. Foucault)
Lebenskunst geht davon aus, dass das Leben nicht etwas ist, das einem nur widerfährt und hingenommen werden muss. Vielmehr hat jeder Mensch die Möglichkeit, das eigene Leben so oder auch ganz anders zu gestalten - wie jemand es führt, ist entscheidend. Was macht nun eine Lebenskünstlerin aus? Die Gedanken und Gefühle eines Menschen, zu wem man sich hingezogen fühlt und bei wem auf Abstand geachtet wird, wie man es mit der Tradition und den Eliten hält, das alles sagt schon eine Menge darüber aus. Glückliche Beziehungen oder gescheiterte Partnerschaften, die Bewältigung einer schwerer Krankheit oder eines Unglücks geben weiteren Aufschluss.
Bin ich eine Lebenskünstlerin?
Diese Frage erscheint mir weder anmaßend noch hat sie etwas mit Selbstbezogenheit und Narzissmus zu tun. Denn der Lebenskunst, der "Ars vivendi", geht es um die Einzigartigkeit eines jeden Lebens. So wie das Material einer Bildhauerin etwa ein Holzblock oder ein Steinquader ist, so ist der Gegenstand der Lebenskunst das Leben jedes einzelnen Menschen selbst, und das Ziel ist seine richtige Gestaltung.
Bin ich also eine Lebenskünstlerin? Mit einem klaren "Ja! Ich verstehe mich aufs Leben!" beantworte ich ohne Zögern die Frage - und habe dabei doch nur einen recht begrenzten Abschnitt meines Lebens im Auge: einige Wochen im Juli dieses Jahres in Kolberg an der polnischen Ostseeküste.
Ich besuchte während dieser Zeit einen Intensivkurs für Polnisch. Jeden Vormittag hatte ich bei einer engagierten Lehrerin Unterricht. Mein Ziel war die schwierige Grammatik und die noch schwierigere polnische Aussprache zu lernen. Denn ich habe einen Traum: diese Sprache einmal richtig gut zu können, um Originaldokumente in polnischen Archiven lesen zu können.
Vier Wochen lang lebte ich begeistert für meine Vision. Der Alltag mit seinen Pflichten und Ablenkungen hatte keinen Zutritt zu dieser Welt. Zweifelnde Stimmen aus der Heimat wie "Ob das noch was wird? Wozu brauchst du das eigentlich? Lohnt sich der Aufwand?" drangen nicht zu mir vor.
Was aber hat diese Begebenheit, dieser unspektakuläre Sprachkurs mit Lebenskunst zu tun?
Mein Aufenthalt in Kolberg steht stellvertretend für vieles in meinem Leben, das ich als bejahenswert empfinde. Er steht für ein Können, für ein "Know-how". Und wie für alles Können gibt es dafür auch Lehrmeister und Lehrmeisterinnen.
So wie sich Künstler das Handwerkliche ihrer Kunst aneignen müssen, so gilt dies auch für die Lehrmeister der Lebenskunst. Die großen Philosophen der Antike etwa, wie Sokrates, Platon, Epikur und Seneca, beherrschten erlernbare Fertigkeiten wie Askese, Einübung stoischer Gelassenheit oder den Umgang mit Emotionen.
Eine Künstlerin wäre aber keine große Künstlerin, wenn sie lediglich über technisches Können verfügen würde. Wahre Kunst wird geprägt durch die Schöpfungskraft des Menschen, durch die "poesis", d. h. eine wirkliche Künstlerin muss über Vorstellungskraft und Erfindungsreichtum verfügen.
Und so wie die Kunst beschränkt sich auch Lebenskunst nicht auf das notwendige handwerkliche Können. Sie muss mehr als nur Lehrsprüche und die anerkannten Regeln einer gediegenen Lebensführung kennen. Durch Musik und Märchen, Träume und Erinnerungen werden wir zu ihr geführt.
Mein Lehrmeister der Lebenskunst: Rodolfo
Mein Lehrmeister war und ist Rodolfo. Die nicaraguanische Freiheitskämpferin und Feministin Gioconda Belli hat ihn als Hauptfigur in ihrem Bildermärchen "Die Werkstatt der Schmetterlinge" bestimmt. Er gehört in dieser Märchenwelt zu denjenigen, die den Auftrag haben, die Dinge, Pflanzen und Tiere für das Universum zu entwerfen. Rodolfo hat dabei einen Traum: er will ein Wesen erschaffen, das schön ist wie eine Blume, und gleichzeitig fliegen kann wie ein Vogel. Er kann seinen Traum schließlich verwirklichen - er erfindet den Schmetterling.
Für mich ist Rodolfo ein Lehrmeister nicht, weil er Erfolg hat. Entscheidend ist auch nicht der große Entwurf, das geniale Werk, sondern dass er seinen Traum verteidigt gegen alle Widerstände und Entbehrungen. Sein Plan will ihm nicht gelingen, aber er sagt sich immer wieder: "Wir dürfen unsere Träume nicht aufgeben, und genau deshalb muss ich es noch einmal versuchen!" Lange probiert er vergeblich. Andere haben schon etwas vorzuweisen, sie lachen sogar über ihn. Es kümmert ihn nicht. Lebenskunst - das habe ich von Rodolfo gelernt - heißt, den Konformitätsdruck auszuhalten, Durchhaltevermögen und Widerstandskraft zu entwickeln. Und an ihm wird auch deutlich, dass Lebenskunst wenig mit den gängigen Vorstellungen eines von Anstrengungen freien Leben mit unbeschwertem Lebensgenuss zu tun hat. Lebenskunst meint eben nicht ein leichtes, problemfreies Dasein, eher eines, das Schwierigkeiten beinhaltet, die zu bewältigen sind, ja sogar erst gesucht werden müssen. Konflikte, Entbehrungen, Widerstände, die ausgehalten oder ausgefochten werden müssen - nicht gerade das, was gemeinhin zu einem schönen Leben und zum Glücklichsein zählt!
Das Buch im Küchenschrank
Lebenskunst setzt, wie eingangs erwähnt, voraus, dass wir unser Leben so oder auch anders leben können. Und sie verlangt, dass wir zwischen diesen verschiedenen Wegen und Möglichkeiten unterscheiden und auswählen können. Ein Lebenskönner muss bewerten können und spüren, was gut ist und was nicht. Nicht alles ist gleich, und ein gutes Gespräch und leeres Geschwätz sind zweierlei. Lebenskunst schließt angepasstes oder schicksalsergebenes Dahinleben aus und fordert reflektiertes Handeln.
Eine wichtige Kunst besteht in der Sorge für die Seele. Und eine Lebenskünstlerin weiß um den Unterschied zwischen Krankheit und Gesundheit und Wohlergehen der Seele.
Meine Mutter führte in meiner Kindheit eine zeitlang ein Buch über mein tägliches Verhalten. Dieses Notizbuch lag im Küchenschrank. Jeden Abend wurde darin eine neue Seite durch einen senkrechten Strich geteilt und in der einen Spalte vermerkt, was an dem Tage an meinem Verhalten "gut", und in der anderen, was "böse" war.
Wie viele Töchter meiner Generation habe ich lange Zeit dieses Buch, d.h. die (kontrollierenden) Maßstäbe meiner Mutter, radikal verworfen. Persönliche Schwierigkeiten und Scheitern, ja alle Probleme dieser Welt habe ich auf ihr Bewertungsschema zurückgeführt.
Und dennoch habe ich diese Technik der Dokumentation später für mich beibehalten. Ich schreibe Hefte voll und wie meine Mutter unterteile ich jedes Blatt mit einem vertikalen Strich.
Viele Jahre habe ich damit verbracht, Gefühle und Leidenschaften wie Freude, Bitterkeit, Resignation, Feindseligkeit, Begehren, Sehnsucht, Trauer und Hoffnung zu ordnen und in die richtigen Spalten einzutragen. Für diese Art der Lebenskunst hatte ich viele Lehrmeisterinnen, z.B. die Feministin Mary Daly, die ja von den "Tugenden", die Frauen krank machen, als von "Plastik- und Pseudo-Tugenden" spricht. Ich habe diese "Seelenzustände" nicht nur theoretisch geordnet, sondern mir auch viele Übungen ausgedacht, wie ich die Unterschiede spüren und mich von Bitterkeit, Resignation und Feindseligkeit lösen und auf Sehnsucht, Freude, Trauer und Hoffnung zu bewegen kann.
Dr. Heidi Hofmann lebt in Nürnberg und ist Lehrbeauftragte für Ethik.
Elisabeth Moltmann-Wendel, Gib die Dinge der Jugend mit Grazie auf, Texte zur Lebenskunst, Radius Verlag Stuttgart 2008, 157 S., 16 Euro.
Gioconda Belli, Die Werkstatt der Schmetterlinge, Peter Hammer Verlag Wuppertal 2000, 40 S., 11 Euro.