Evangelischer Presseverband für Bayern e.V.

Wenn das Trauma zurückkehrt

Heft 4/2010 Gewalt überwunden?

Von Ingrid Reich

 

Wer im Laufe der eigenen Lebensgeschichte Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt machen musste, braucht in einer Pflegesituation besondere Wachsamkeit und Hilfe auf Augenhöhe.

Frauen, die heute über 60 sind, haben Krieg und Vertreibung erlebt. Schätzungen zufolge wurden allein in Berlin bei Kriegsende über 50 Prozent der Mädchen und Frauen vergewaltigt. Neben sexualisierter Kriegsgewalt haben viele Frauen im Verlauf ihres Lebens häusliche und sexuelle Gewalt erlitten. Aus Scham und Angst vor Ausgrenzung haben sie nie über das Erlebte gesprochen und ihr Leben - so gut es eben ging - mit ihrer Traumatisierung gelebt.

Schmerzliche Erinnerungen

Inzwischen sind sie alt, manche bereits gestorben. Bei vielen bricht mit Ruhestand, Tod des Partners oder Einzug ins Pflegeheim der Schutzpanzer auf. Oft werden Menschen von schmerzlichen Erinnerungen überwältigt, wenn Tagesstruktur und Ablenkung wegfallen. Wenn eine alte Frau ihr bisheriges Umfeld verlassen muss und in ein Heim zieht, muss sie die Kontrolle über ihr eigenes Lebens aufgeben. Sie muss sich den Gegebenheiten der Einrichtung unterordnen. Die Zimmertür wird geöffnet, es tritt jemand ein. Wer? Wird freundlich mit ihr gesprochen oder von oben herab? Sie wird im Intimbereich gewaschen und kann nicht mitbestimmen, von wem. Vieles in solchen Situationen kann belastende Bilder und Gefühle aus der Vergangenheit hervorrufen. Auslöser für sich aufdrängende Erinnerungen können sein: Geräusche, Gerüche, Musik, Körperhaltungen, Sprache. So verfiel z.B. eine Frau, die von einem amerikanischen Soldaten vergewaltigt worden war, in Halluzinationen und Angstzustände, als ihre Bettnachbarin Besuch von ihrem englischen Ehemann erhielt (Martina Böhmer: Erfahrungen sexualisierter Gewalt in der Lebensgeschichte alter Frauen. 2005, S.14).

Aus der Traumaforschung wissen wir, dass posttraumatische Belastungssymptome oft mit Übererregung, Erstarrt-Sein und unkontrollierbaren Erinnerungsfetzen einhergehen. Da die Ausdrucksformen z.B. den Symptomen der Demenz ähnlich sein können, kommt es häufig zu einer Fehldiagnose. Die oben erwähnte Frau hatte Glück: Das Pflegepersonal war sensibilisiert und konnte den Zusammenhang zu ihrer Lebensgeschichte herstellen. Statt sie zu sedieren und zu fixieren, brachte man die alte Frau in ein anderes Zimmer, half ihr sich zu beruhigen und sich aus der wieder erlebten Vergewaltigungssituation zu befreien.

Entlastung durch Kompetenz

Viele Pflegekräfte wissen nicht, wie sie adäquat reagieren können, wenn sie wahrnehmen, dass alte Frauen von Traumatisierungen betroffen sind und schauen weg. In der Ausbildung ist das Thema Traumatisierung durch sexualisierte Gewalt im Lebensverlauf noch immer kein fester Bestandteil. In Gesprächen mit Fachkräften erleben die Expertinnen vom Frauennotruf täglich, wie groß der Bedarf an Beratung und Fortbildung ist. Deshalb vermittelt der Frauennotruf München Traumawissen, erklärt was posttraumatische Belastungssymptome sind und sensibilisiert für die Ausdrucksformen von retraumatisierten Menschen. Dies schafft Sicherheit und ermöglicht adäquate Handlungsmöglichkeiten, die nicht zwingend mit mehr Aufwand verbunden sind. In der Regel fühlen sich die Pflegenden durch ihre neue Kompetenz entlastet.

Auch Angehörige werden im Rahmen offener Sprechstunden und bei Informationsveranstaltungen unterstützt, sich mit dieser Problematik auseinanderzusetzen und Handlungsstrategien zu entwickeln. Die alten Frauen selbst kommen in der Regel nicht von sich aus zum Frauennotruf. Mit Angeboten wie Selbstbehauptungskursen oder Frühstücksgruppen bieten ihnen die Teamfrauen deshalb Möglichkeiten, pragmatische Wege der Kontaktaufnahme. Denn es hat sich gezeigt: Gespräche sind der richtige Weg zu mehr Lebensqualität - auch im hohen Alter.

Ingrid Reich ist Dipl. Sozialwirtin und arbeitet beim Frauennotruf München.

Frauennotruf München Sicher im Alter - Beratung und Gruppen für Frauen ab 60 Jahren, Fürstenrieder Straße 84, 80686 München, 089/763737, info@frauennotrufmuenchen.de, www.frauennotrufmuenchen.de. Frauennotruf Nürnberg Beratungsstelle für Frauen mit sexuellen Gewalterfahrungen, Ludwigsplatz 7, 90403 Nürnberg, Telefon: 0911/284400, kontakt@frauennotruf.info, www.frauennotruf.info.